Dienstag, Oktober 30, 2007

CHStPO: Kommentar zu Art. 12 und 13

Art. 12 Strafverfolgungsbehörden
Strafverfolgungsbehörden sind:
a. die Polizei;
b. die Staatsanwaltschaft;
c. die Übertretungsstrafbehörden.

Art. 13 Gerichte
Gerichtliche Befugnisse im Strafverfahren haben:
a. das Zwangsmassnahmengericht;
b. das erstinstanzliche Gericht;
c. die Beschwerdeinstanz;
d. das Berufungsgericht.


Der 2. Titel der CHStPO ist den Strafbehörden gewidmet. In der Terminologie der CHStPO wird Strafbehörden als Oberbegriff verwendet für die in Art. 12 genannten Strafverfolgungsbehörden und die in Art. 13 bezeichneten Strafgerichte. Art. 13 verpflichtet die Kantone insbesondere zur Schaffung von sog. Zwangsmassnahmegerichten. Die Tage, da ein Untersuchungsrichter oder Staatsanwalt gleich selbst über die Verhaftung des Beschuldigten entscheidet sind somit endgültig gezählt.

Art. 12 bezeichnet die Polizei explizit als Strafverfolgungsbehörde. Dies ist lediglich auf den ersten Blick selbstverständlich. Die CHStPO unterscheidet im sog. Vorverfahren zwischen dem polizeilichen Ermittlungsverfahren (Art. 306 f) und der eigentlichen Strafuntersuchung (Art. 308 ff). Letztere wird gemäss Art. 309 dann eröffnet, wenn ein hinreichender Tatverdacht besteht, wenn die Staatsanwaltschaft Zwangsmassnahmen anordnet oder wenn die Polizei die Staatsanwaltschaft gemäss Art. 307 Abs. 1 informiert, was lediglich bei schweren Straftaten unverzüglich zu erfolgen hat. Aus diesen Bestimmungen erhellt, dass es eben auch einen Bereich selbständiger polizeilicher Ermittlungen gibt, welche die Polizei führt, ohne dass schon ein Strafverfahren eröffnet wurde.

Art. 15 (wie auch Art. 306 Abs. 3) bestimmt nun, dass die Polizei auch bei diesen sog. selbständigen Ermittlungen sich nach der StPO zu richten hat. Mit anderen Worten regelt also die Strafprozessordnung nicht nur die Strafuntersuchung. Es handelt sich bei der CHStPO vielmehr um ein Strafverfahrensrecht im weiteren Sinne, welches sämtliche Vorgehnsweisen von Polizei und Staatsanwaltschaft umfasst, die der Abklärung und Beurteilung von Straftaten nach dem StGB und der Nebenstrafgesetzgebung dienen. Dies war bis anhin in der Strafverfolgungspraxis nicht immer so klar.

Die CHStPO enthält denn auch einige Bestimmungen, die die Verhaltensweise der Polizei und ihr Verhältnis zur Staatsanwaltschaft regeln, welche in Polizeikreisen für Aufsehen oder gar Unbehagen sorgten. So bestimmt etwa Art. 15 Abs. 2 klipp und klar, dass die Polizei der Aufsicht und den Weisungen der Staatsanwaltschaft untersteht. Diese Bestimmung hat im Vorfeld der parlamentarischen Beratungen bei manchem Polizeikommandanten zu gewissen Existenzängsten geführt. Auch in anderen Bereichen führt die CHStPO zu nicht ganz unbedeutenden Verschiebungen der Zuständigkeiten im Verhältnis Polizei und Staatsanwaltschaft. So kann bspw. gemäss Art. 286 ff nur noch der Staatsanwalt eine verdeckte Ermittlung anordnen, während gemäss heutigem BVE diese Befugnis auch dem Polizeikommando zusteht. Gemäss Art. 282 Abs. 2 hat die Polizei bei einer Observation, welche einen Monat gedauert hat, die Genehmigung des Staatsanwaltes einzuholen, wenn sie sie fortsetzen will. Abs. 1 geht vom Wortlaut her offenbar sogar von der Vorstellung aus, dass der Staatsanwalt im Rahmen einer Strafuntersuchung die Observation selbst vornimmt. Sehen wir wohl künftig Staatsanwälte mit Richtmikrofonen und Feldstechern ausgerüstet hinter Büschen sitzen ? Wohl kaum.

Gewöhnungsbedürftig werden für die Polizei auch die rigiden Dokumentationspflichten der CHStPO sein. Gemäss Art. 76 Abs. 1 sind sämtliche Verfahrenshandlungen, welche nicht schriftlich durchgeführt werden, zu protokollieren. Diese Bestimmung richtet sich selbstredend auch auf das polizeiliche Ermittlungsverfahren. So wird bspw. über jede Observation ein Protokoll zu erstellen sein. Art. 307 Abs. 3 verpflichtet die Polizei explizit sämtliche Feststellungen und Massnahmen laufend in schriftlichen Berichten festzuhalten. Diese sind nach Abschluss der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zuzustellen und kommen in die Akten. Ausnahmen sind gemäss Art. 307 Abs. 4 nur in sehr beschränktem Ausmass zulässig. Selbstverständlich kommen all die von der Polizei zu erstellenden Protokolle und Berichte zu den Akten. Die Ermittlungshandlungen der Polizei werden somit künftig wesentlich transparenter zu dokumentieren sein als dies heute der Fall ist. Was einerseits der Rechtsstaatlichkeit des polizeilichen Handelns dient, wird andererseits natürlich auch Angriffsflächen schaffen. Jedenfalls wird sich der Polizeialltag unter der CHStPO gegenüber heute wohl nicht ganz unwesentlich verändern.

Etwas provokativ und nicht ganz ernst gemeint, kann man die Frage aufwerfen, ob damit nicht auch die Machtverhältnisse zwischen Polizei und Straftätern zugunsten letzterer verschoben werden, unterliegen diese doch nach wie vor keiner Dokumentationspflicht hinsichtlich ihrer Straftaten. Zu protokollieren sind nämlich gemäss Art. 76 lediglich Verfahrenshandlungen und nicht die Handlungen, die Anlass geben zur Eröffnung von Verfahren, auch wenn natürlich die Ausdehnung der Dokumentationspflicht auf die Verfahrensverursacher letztendlich das Strafverfahren ungeheuer erleichtern würde.

Samstag, Oktober 27, 2007

CHStPO: Kommentar zu Art. 11

Art. 11 Verbot der doppelten Strafverfolgung
1 Wer in der Schweiz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, darf wegen der gleichen Straftat nicht erneut verfolgt werden.
2 Vorbehalten bleiben die Wiederaufnahme eines eingestellten oder nicht anhand genommenen Verfahrens und die Revision.


Art. 11 statuiert – als letzten in der Reihe der Verfahrensgrundsätze des ersten Titels - einen weiteren im Strafverfahrensrecht zentralen Grundsatz: „ne bis in idem“. Demnach darf niemand wegen der gleichen Sache zweimal verfolgt werden. Abs. 1 stellt jedoch sogleich klar, dass dieser Grundsatz sich nur auf Verurteilungen in der Schweiz bezieht. Unter welchen Bedingungen ein im Ausland bereits verurteilter in der Schweiz noch verfolgt und bestraft werden kann bestimmt sich nach den Art. 3 – 7 StGB. Wie die meisten anderen Rechtsgrundsätze des Strafverfahrensrechts ist auch das Verbot der doppelten Strafverfolgung bereits in verfassungs- und völkerrechtlichen Bestimmungen verankert (Art. 8 BV, Art. 4 des Zusatzprotokolls Nr. 7 zur EMRK, Art. 14 Abs. 7 IPBPR; vgl. auch Art. 20 des Römer Statuts, s. hiezu Botschaft zur CHStPO, BBl 2006, S. 1133).

Ein materiell rechtskräftiges Urteil in der gleichen Sache ist ein von Amtes wegen zu prüfendes Verfahrenshindernis das nicht nur die Durchführung eines Gerichtsverfahrens, sondern bereits die Einleitung einer Strafuntersuchung verunmöglicht (s. Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 4. Auflage, 2004, Rz. 538 f und 588). Eine gewisse Uneinigkeit besteht in Lehre und Rechtsprechung, wann eine sog. Tatidentität besteht, d.h. ob auf den historischen Lebenssachverhalt abzustellen ist, so wie er sich effektiv verwirklicht hat oder auf den Sachverhalt, der Gegenstand des Gerichtsverfahrens war (s. dazu etwa BGE 118 IV 269). Ausgeschlossen ist jedenfalls eine Verurteilung desselben Täters wegen einem Tatbestand, der zu dem bereits beurteilten in unechter Konkurrenz steht (Schmid, Rz. 589). Entscheidend kann diese Kontroverse etwa in folgendem Beispiel sein. A wird vom Vorhalt der vorsätzlichen Tötung des B freigesprochen, weil das Gericht zum Schluss kommt, dass A der Vorsatz fehlte, er jedoch durch eine pflichtwidrige Unvorsichtigkeit den Tod von B fahrlässig verursacht hat. Wegen diesem Sachverhalt kann er jedoch nicht verurteilt werden, da eine pflichtwidrige Unvorsichtigkeit dem A in der Anklageschrift nicht vorgeworfen wurde (Anklageprinzip). Wollte man nun auf den historischen Lebenssachverhalt abstellen (also die Tötung des B durch den A) so wäre eine erneute Strafverfolgung gegen A, diesmal wegen fahrlässiger Tötung nicht möglich. Vom Ergebnis her kann dies wohl kaum akzeptiert werden (denkbar wäre ja etwa auch die umgekehrte Konstellation mit dem noch stossenderen Ergebnis, dass der A trotz erwiesenem Tötungsvorsatz nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann). Es ist daher die Lösung vorzuziehen, dass bezüglich der Tatidentität auf den prozessual festgestellten Sachverhalt abzustellen ist (so auch Schmid).

Der Grundsatz ne bis in idem richtet sich nur gegen zweifache Verurteilungen strikt strafrechtlicher Natur. So ist bspw. die gleichzeitige Verurteilung desselben Täters in einem Steuerstrafverfahren wegen Steuerhinterziehung und durch die ordentlichen Strafbehörden wegen Steuerbetrugs nicht ausgeschlossen: BGE 122 I 257. Ebenfalls zulässig ist der Führerausweisentzug, der kumulativ zur Bestrafung wegen SVG-Widerhandlungen verfügt wird: BGE 125 II 402.

Abs. 2 regelt die Ausnahmen vom Grundsatz „ne bis in idem“, wobei es sich streng genommen bei der erstgenannten Konstellation einer früheren Verfahrenseinstellung nicht um eine Ausnahme des Grundsatzes handelt, da dieser sich, wie sich bereits aus dem Wortlaut des Abs. 1 ergibt, auf frühere Freisprüche oder Verurteilungen bezieht. Art. 323 regelt die Voraussetzungen unter denen die Staatsanwaltschaft ein eingestelltes Strafverfahren wieder aufnehmen kann. Es müssen neue Tatsachen oder Beweismittel auftauchen, welche für eine strafrechtliche Verantwortung des Beschuldigten sprechen und sich nicht aus den früheren Akten ergaben. Um eine echte Ausnahme handelt es sich indes bei der Revision (Art. 410 ff).

Donnerstag, Oktober 25, 2007

CHStPO: Kommentar zu Art. 10

Art. 10 Unschuldsvermutung und Beweiswürdigung
1 Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.
2 Das Gericht würdigt die Beweise frei nach seiner aus dem gesamten Verfahren gewonnenen Überzeugung.
3 Bestehen unüberwindliche Zweifel an der Erfüllung der tatsächlichen Voraussetzungen der angeklagten Tat, so geht das Gericht von der für die beschuldigte Person günstigeren Sachlage aus.


„Wer Recht erkennen will, muss zuvor in richtiger Weise gezweifelt haben.“ Dieser Ausspruch stammt von Aristoteles. Der Grundsatz „in dubio pro reo“, welcher wohl einen der wichtigsten Rechtsgrundsätze darstellt, geht schon auf die vom genannten griechischen Philosophen geprägte Rechtsauffassung zurück. Heute ist er u.a. auch Bestandteil der EMRK (Art. 6 Ziff. 2) und der Schweizerischen Bundesverfassung (Art. 32 Abs. 1).

Der Grundsatz „in dubio pro reo“ hat zwei wesentliche Kerngehalte: Als Beweislastregel bedeutet die Maxime, dass es Sache der Anklagebehörde ist, die Schuld des Angeklagten zu beweisen, und nicht dieser seine Unschuld nachweisen muss. Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist verletzt, wenn der Strafrichter einen Angeklagten (einzig) mit der Begründung verurteilt, er habe seine Unschuld nicht nachgewiesen. Ebenso ist die Maxime verletzt, wenn sich aus den Urteilsgründen ergibt, dass der Strafrichter von der falschen Meinung ausging, der Angeklagte habe seine Unschuld zu beweisen, und dass er ihn verurteilte, weil ihm dieser Beweis misslang. Als Beweiswürdigungsregel besagt die Maxime, dass sich der Strafrichter nicht von der Existenz eines für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalts überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat (BGE 127 I 38). Diese Beweiswürdigungsregel wird in Art. 10 Abs. 3 explizit verankert, währenddem Abs. 1 die Unschuldsvermutung als Beweislastregel statuiert.

Art. 10 Abs. 1 geht jedoch in seiner Tragweite noch weiter: er verpflichtet insb. die Strafverfolgungsbehörden (aber nicht nur diese) den Beschuldigten bis zur rechtskräftigen Verurteilung als Unschuldigen zu behandeln. Dies führt naturgemäss im Strafprozess in der Praxis immer wieder zu Spannungsverhältnissen. So gibt die Strafprozessordnung den Strafverfolgungsbehörden teilweise einschneidende Zwangsmassnahmen in die Hand, wie etwa die Durchsuchung, die Telefonüberwachung, Beschlagnahmungen und – am einschneidensten – die Untersuchungshaft. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Zwangsmassnahmen und Unschuldsvermutung wird offenkundig, wenn man sich vergegenwärtigt, dass all diese Zwangsmassnahmen gemäss dem Grundsatz der Unschuldsvermutung notgedrungen immer Unschuldige treffen.

Die Unschuldsvermutung wendet sich jedoch auch an Dritte, die nicht direkt Prozessbeteiligte sind, so etwa an die Medien, welche über Strafverfahren berichten. Währenddem die Strafverfolgungsbehörden direkt gestützt auf die Unschuldsvermutung zu einer gewissen Zurückhaltung im Rahmen der Information der Öffentlichkeit verpflichtet sind (s. Art. 74 Abs. 3 und Entscheid der Anklagekammer des Schweizerischen Bundesgerichtes vom 25.9.2000 i.S. Dino Bellasi 8G.36/2000), kann dieser Grundsatz den Medien gegenüber wohl nicht direkt durchgesetzt werden.

Schliesslich ist die Unschuldsvermutung auch bei der Auferlegung von Kosten an den Beschuldigten im Falle eines Freispruchs oder einer Verfahrenseinstellung (Art. 426 Abs. 2) zu beachten (Urteil des EuGMR vom 25. März 1983 i.S. Minelli)

Abs. 2 statuiert den Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Der Zusammenhang zwischen diesem Grundsatz und dem Grundsatz „in dubio pro reo“ besteht darin, dass ersterer durch letzteren eingeschränkt wird. Der Richter ist also grundsätzlich frei in der Beweiswürdigung. Hat er allerdings unüberwindbare Zweifel an der Schuld des Angeklagten, so ist er verpflichtet, diesen freizusprechen. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ ist jedoch auch dann verletzt, wenn der Richter nach freier Ausübung der Beweiswürdigung keine Zweifel an der Schuld des Angeklagten hat, gemäss objektiver Beweislage jedoch solche haben sollte.

Dienstag, Oktober 23, 2007

CHStPO: Kommentar zu Art. 9

Art. 9 Anklagegrundsatz
1 Eine Straftat kann nur gerichtlich beurteilt werden, wenn die Staatsanwaltschaft gegen eine bestimmte Person wegen eines genau umschriebenen Sachverhalts beim zuständigen Gericht Anklage erhoben hat.
2 Das Strafbefehls- und das Übertretungsstrafverfahren bleiben vorbehalten.


Das Bundesgericht umschreibt die Funktion des Anklagegrundsatzes in BGE 126 I 19 wie folgt: "Der Anklagegrundsatz verteilt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Aufgaben zwischen den Untersuchungs- bzw. Anklagebehörden einerseits und den Gerichten andererseits. Er bestimmt den Gegenstand des Gerichtsverfahrens. Die Anklage hat die dem Angeklagten zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe genügend konkretisiert sind. Das Anklageprinzip bezweckt zugleich den Schutz der Verteidigungsrechte des Angeschuldigten und dient dem Anspruch auf rechtliches Gehör (BGE 120 IV 348 E. 2b S. 353 f. mit Hinweisen). Nach Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK hat der Angeschuldigte Anspruch darauf, in möglichst kurzer Frist über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden. Diese Angaben schliessen es allerdings nicht aus, dass eine spätere Verurteilung wegen eines gleichartigen oder geringfügigeren Delikts erfolgt. Das Gericht ist an den in der Anklage wiedergegebenen Sachverhalt gebunden, nicht aber an dessen rechtliche Würdigung durch die Anklagebehörde."

Gemäss BGE 133 IV 93 ist es nicht zulässig, auf eine ungenügende Anklage mit Endentscheid nicht einzutreten. Da der Beschuldigte grundsätzlich Anrecht auf ein Sachurteil hat. Auch der Grundsatz der materiellen Wahrheitsfindung, das Prinzip der Verfahrenseinheit sowie die Prozessökonomie gebieten, dass eine ungenügende Anklageschrift zur Verbesserung an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen ist. In diesem Sinne hat sich auch das Solothurner Obergericht im sog. „Vera-Pevos-Fall“ ausgesprochen. Auch Art. 329 Abs. 2 CHStPO sieht diesen Weg vor. Bereits aus dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 (Eine Straftat kann nur gerichtlich beurteilt werden, wenn) folgt im Umkehrschluss, dass ohne genügende Anklage ein Urteil nicht ergehen kann. So wäre es z.B. auch nicht zulässig, den Angeklagten wegen Verletzung des Anklagegrundsatzes freizusprechen.

Was die Anklageschrift zu enthalten hat, regeln die Art. 325 und 326 CHStPO. Art. 333 befasst sich mit Änderungen und Erweiterung der Anklage. Eine weitere wichtige Bestimmung, die das Anklageprinzip umschreibt, ist Art. 350 Abs. 2. Dieser bestimmt, dass das Gericht an den in der Anklageschrift umschriebenen Sachverhalt, nicht aber an die rechtliche Würdigung gebunden ist.

Ein besonders eklatanter Fall einer Verletzung des Anklagegrundsatzes ist nachzulesen in Franz Kafkas „Der Process“ . Die Handlung kurz zusammengefasst: „Als Josef K. am Morgen seines 30. Geburtstags in seinem Zimmer aufwacht, bringt ihm die Köchin seiner Zimmervermieterin nicht sein Frühstück, wie sie es sonst jeden Tag tut. K. wird stattdessen von zwei Männern überrascht und festgehalten. Die beiden wenig auskunftsfreudigen Zeitgenossen teilen ihm mit, dass er von nun an verhaftet sei. Die beiden Männer geben an, von einer Behörde zu kommen, und behaupten, sie könnten und dürften ihm nicht sagen, warum er verhaftet sei. Trotz seiner Verhaftung darf K. sein Leben in vermeintlicher Freiheit fortführen, da laut beider Männer keinerlei Fluchtgefahr bestehe. K. nimmt zunächst einen üblen Scherz seiner Kollegen an. Im Laufe der Zeit bemerkt er jedoch, dass dies nicht der Fall ist. K. wird zu Gerichtsverhandlungen vorgeladen, bekommt Besuche an seinem Arbeitsplatz und wird zu Hause angerufen. Immer tiefer gerät K. in ein (für Kafka typisches) alptraumhaftes Labyrinth einer surrealen Bürokratie. Im Laufe der Kapitel dringt K. immer tiefer in dieses System ein, er erfährt einiges über die Hierarchien der „Gerichte“, doch nie gelangt er zur höchsten Instanz, nie erfährt er, worin seine „Schuld“ besteht. Gleichzeitig dringt das System immer weiter in K.s Leben ein. Auch entpuppen sich nach und nach immer mehr Menschen in K.s Leben als Teile dieses Räderwerks, wie K. selbst. Er lernt außerdem andere Personen kennen, von denen er sich Auskunft erhofft über das „Gericht“, das ihn anklagt. Immer mehr beschäftigt K. sich mit seinem Prozess, obwohl er das Gegenteil beabsichtigt. In der Realität tun sich Abgründe auf, die sich ausdehnen. Scheinbare Zufälle führen K. weiter von einem Glied im System zum nächsten.“

Wenn man sich in die Haut des Protagonisten in Kafkas Roman, Josef K. versetzt, versteht man sehr gut, was Sinn und Zweck des Anklagegrundsatzes ist. Wer Zeit und Musse hat, den ganzen Roman zu lesen, der kann dies hier tun.

In der Praxis besteht jedoch – wie die in den vorstehend erwähnten Urteilen behandelten Fälle zeigen – eine gewisse Tendenz, den Anklagegrundsatz überzubewerten. Man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass sich Verteidiger und mitunter auch Gerichte den Anklagegrundsatz zu Nutzen machen, um sich nicht mit der Anklage befassen zu müssen. Der wesentliche Aspekt des Anklagegrundsatzes besteht darin, dass der Angeklagte weiss, was ihm vorgeworfen wird und er sich somit dagegen verteidigen kann. Der Anklagegrundsatz sollte jedoch nicht als taktischer Fallstrick für die Staatsanwaltschaft herangezogen werden. Gemäss der Forderung von Art. 325 Abs. 1 lit. f CHStPO hat die Anklageschrift „möglichst kurz, aber genau: die der beschuldigten Person vorgeworfenen Taten mit Beschreibung von Ort, Datum, Zeit, Art und Folgen der Tatausführung“ bezeichnen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Freitag, Oktober 19, 2007

CHStPO: Kommentar zu Art. 7 und 8

Art. 7 Verfolgungszwang
1 Die Strafbehörden sind verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit ein Verfahren einzuleiten und durchzuführen, wenn ihnen Straftaten oder auf Straftaten hinweisende Verdachtsgründe bekannt werden.
2 Die Kantone können vorsehen, dass:
a. die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder ihrer gesetzgebenden und richterlichen Behörden sowie ihrer Regierungen für Äusserungen im kantonalen Parlament ausgeschlossen oder beschränkt wird;
b. die Strafverfolgung der Mitglieder ihrer Vollziehungs- und
Gerichtsbehörden wegen im Amt begangener Verbrechen oder Vergehen von der Ermächtigung einer nicht richterlichen Behörde abhängt.

Art. 8 Verzicht auf Strafverfolgung
1 Staatsanwaltschaft und Gerichte sehen von der Strafverfolgung ab, wenn das Bundesrecht es vorsieht, namentlich unter den Voraussetzungen der Artikel 52, 53 und 54 des Strafgesetzbuches3 (StGB).
2 Sofern nicht überwiegende Interessen der Privatklägerschaft entgegenstehen, sehen sie ausserdem von einer Strafverfolgung ab, wenn:
a. der Straftat neben den anderen der beschuldigten Person zur Last gelegten Taten für die Festsetzung der zu erwartenden Strafe oder Massnahme keine wesentliche Bedeutung zukommt;
b. eine voraussichtlich nicht ins Gewicht fallende Zusatzstrafe zu einer rechtskräftig ausgefällten Strafe auszusprechen wäre;
c. eine im Ausland ausgesprochene Strafe anzurechnen wäre, welche der für die verfolgte Straftat zu erwartenden Strafe entspricht.
3 Sofern nicht überwiegende Interessen der Privatklägerschaft entgegenstehen, können Staatsanwaltschaft und Gerichte von der Strafverfolgung absehen, wenn die Straftat bereits von einer ausländischen Behörde verfolgt oder die Verfolgung an
eine solche abgetreten wird.
4 Sie verfügen in diesen Fällen, dass kein Verfahren eröffnet oder das laufende Verfahren eingestellt wird.


Art. 7 und 8 stehen in engem sachlichen Zusammenhang zueinander. Während Art. 7 das strafprozessuale Legalitätsprinzip statuiert, regelt Art. 8 dessen Einschränkung im Sinne des gemässigten Opportunitätsprinzips.

Abs. 2 von Art. 7 übernimmt im Wesentlichen die Regelung gemäss heutigem Art. 347 StGB. Lit. a dehnt die parlamentarische Immunität auf Mitglieder der Regierung und der Gerichte aus, für den Fall, dass auch diese sich in parlamentarischen Beratungen zu äussern haben. Lit. b will die genannten Beamten vor ungerechtfertigten Anzeigen im Zusammenhang mit ihrer Amtstätigkeit schützen. Im Gegensatz zu Art. 347 StGB ist dieser Schutz nicht mehr auf die obersten Vollziehungs- und Gerichtsbehörden beschränkt.

Art. 8 ermöglicht es der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht, unter gewissen Voraussetzungen von einer Strafverfolgung abzusehen. Dieser Entscheid hat in jedem Fall durch eine förmliche und anfechtbare Verfügung zu erfolgen. Die Art. 52 – 54 StGB, auf die in Abs. 1 verwiesen wird, erfassen Konstellationen, in denen das Strafbedürfnis gegenüber dem Täter aus bestimmten Gründen, welche mit dem Täter oder dessen Tat zusammenhängen, kaum mehr gegeben ist. In diesen Fällen kann auf eine Strafverfolgung vollständig verzichtet werden. Demgegenüber geht es in den Absätzen 2 und 3 um Konstellationen, in denen der Täter bereits wegen anderen Delikten oder im Ausland verfolgt oder bestraft wird oder wurde. Man könnte die erste Konstellation (Art. 52 – 54 StGB) in gewisser Weise als subjektives Opportunitätsprinzip bezeichnen, weil jeweils (auch) auf das geringe Verschulden des Täters oder dessen Verhalten nach der Tat oder Betroffenheit durch die Tat abgestellt wird. Demgegenüber geht es beim objektiven Opportunitätsprinzip (Abs. 2 und 3) darum, den Strafverfolgungsorganen unnötigen Aufwand zu ersparen, resp. diejenigen strafbaren Handlungen nicht mehr zu verfolgen, welche bezüglich des Strafmasses nicht mehr von Gewicht sind oder bereits im Ausland verfolgt oder bestraft wurden. Beim subjektiven Opportunitätsprinzip steht der Sühnegedanke im Vordergrund, währenddem es beim objektiven Opportunitätsprinzip primär um Effizienzüberlegungen geht. Dem Effizienzgedanken sollen jedoch nicht überwiegende Interessen der Privatklägerschaft geopfert werden. Diese stehen der Anwendung des objektiven Opportunitätsprinzips entgegen.

Gewisse Schnittstellen zum objektiven Opportunitätsprinzip ergeben sich auch beim sog. abgekürzten Verfahren, Art. 358 ff. Auch hier geht es um eine Aufwandminimierung im Sinne des Effizienzgedankens. Auch das abgekürzte Verfahren stellt in gewisser Weise eine Einschränkung des strafprozessualen Legalitätsprinzipes dar, ermöglicht es doch den Verzicht auf ein Beweisverfahren, wenn der Beschuldigte den für die rechtliche Würdigung wesentlichen Sachverhalt anerkennt. Das sog. abgekürzte Verfahren ist vergleichbar mit dem „Plea Bargaining“ des amerikanischen Strafprozesses. Faktisch kann dieses Verfahren auch dazu führen, dass eine strafbare Handlung nicht geahndet wird, weil auf das Beweisverfahren verzichtet wird. Wenn bspw. der Täter einen strafrechtlich relevanten Sachverhalt anerkennt, kann dies dazu führen, dass weitere, möglicherweise ebenfalls strafrechtlich relevante Sachverhalte, mangels durchgeführtem Beweisverfahren gar nicht zum Gegenstand des Prozesses werden. Die Krux liegt eben darin, welcher Sachverhalt (den der Beschuldigte eingestehen soll) als für die rechtliche Würdigung wesentlich erachtet wird. Auch beim abgekürzten Verfahren sollen die Zivilansprüche nicht auf der Strecke bleiben, setzt doch die Durchführung des abgekürzten Verfahrens deren Anerkennung durch den Beschuldigten zumindest im Grundsatze voraus.

Alle diese Ansätze zur Einschränkung des strafprozessualen Legalitätsprinzips zeugen letztendlich von der Einsicht, dass es dem Staat nie möglich sein wird, sämtliche strafbaren Handlungen, welche irgendwann irgendwo begangen werden zu ahnden. Eine bedingungslose Durchsetzung des strafprozessualen Legalitätsprinzips wäre wohl weder wünschenswert noch bezahlbar. In letzter Zeit erleben wir sozusagen in gewisser Weise eine Ökonomisierung des Strafrechts. Die Politik stellt sich zunehmend die Frage, was Sicherheit und Strafjustiz kosten darf. Dies ist an sich nicht falsch. Auf der anderen Seite wäre auch eine gewisse Sparsamkeit wünschenswert, wenn es um die Schaffung neuer Straftatbestände geht. In dieser Hinsicht erleben wir momentan eine wahre Inflation. Praktisch jedes neue Gesetz welches geschaffen wird – und die Gesetzesmaschinerie dreht sich in letzter Zeit immer schneller – enthält Strafbestimmungen, welche die Nichtbeachtung des neuen Gesetzes ahnden sollen (kleines Beispiel gefällig ? bitte schön: Die Vögel werden plötzlich von der Grippe bedroht, also beschliesst der Staat die Vögel einzusperren. Was aber machen wir mit den Vogelhaltern, die ihre Vögel nicht einsperren ? Kein Problem: Wenn wir schon nicht alle Vögel einsperren können, dann sperren wir halt die unfolgsamen Vogelhalter ein; so geschehen: hier ). Ob dies eine gute Entwicklung darstellt, wäre wohl auch mal ein Gedanke wert.

Mittwoch, Oktober 17, 2007

CHStPO: Kommentar zu Art. 6

Art. 6 Untersuchungsgrundsatz
1 Die Strafbehörden klären von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen ab.
2 Sie untersuchen die belastenden und entlastenden Umstände mit gleicher Sorgfalt.


Die Strafbehörden haben sämtliche für die Beurteilung von Tat und beschuldigter Person erforderlichen Beweise von Amtes wegen zu sammeln (Abs. 1). Ziel des Strafverfahrens ist die Erforschung der materiellen (historischen) Wahrheit (Botschaft, BBl 2006, S. 1130).

Nicht ausser Acht gelassen werden darf jedoch, dass die Erforschung der materiellen Wahrheit immer nur in den durch die StPO vorgegebenen Formen und Schranken zu erfolgen hat. Dies hat zur Folge, dass es in manchen Fällen letztendlich trotzdem bei der sog. formellen (oder prozessualen) Wahrheit bleibt. Einschränkungen der Pflicht zur Suche nach der materiellen Wahrheit ergeben sich etwa aus Art. 140 f. Art. 140 verbietet gewisse Beweiserhebungsmethoden absolut. Art. 141 statuiert ein Verwertungsverbot bezüglich rechtswidrig erlangter Beweise. Dieses ist einerseits eingeschränkt mit Bezug auf die Verwertung von Beweismitteln, welche zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich sind (Art. 141 Abs. 2). Andererseits wird das Verwertungsverbot in Art. 141 Abs. 4 auf die sog. „fruits of the poisonous tree“ ausgeweitet. Eine weitere Einschränkung erfährt das Ziel der Erforschung der materiellen Wahrheit etwa auch im in Art. 10 Abs. 3 statuierten Grundsatz „in dubio pro reo“. Danach ist bei unüberwindbaren Zweifeln an der Schuld des Angeklagten von der für ihn günstigeren Sachlage auszugehen, auch wenn ein anderer Geschehnisverlauf wahrscheinlicher wäre. Aus diesen Einschränkungen erhellt, dass die materielle Wahrheit im modernen Strafprozess zwar ein anzustrebendes Ziel darstellt, dessen Erreichung jedoch keineswegs alles untergeordnet wird und das auch bei weitem nicht immer erreicht wird.

Abs. 2 verpflichtet die Strafbehörden zur Objektivität. Diese Bestimmung drängt sich angesichts der starken Stellung der Staatsanwaltschaft auf, welche sowohl die Verantwortung für das Vorverfahren wie auch für die Anklageerhebung und Anklagevertretung innehat. Im Gegensatz zum Staatsanwaltsmodell orientiert sich das Untersuchungsrichtermodell am Ideal des das Vorverfahren leitenden unabhängigen Untersuchungsrichters. Beim sog. Untersuchungsrichtermodell I ist der Staatsanwalt sowohl im Vorverfahren wie auch im gerichtlichen Hauptverfahren Partei. Beim sog. Staatsanwaltsmodell II, das in der CHStPO gewählt wurde, ist die Aufgabe des Staatsanwaltes in gewisser Weise zweigeteilt. Während er im Vorverfahren die Verfahrensleitung innehat, tritt er vor Gericht als Partei auf. Wegen des Fehlens des Untersuchungsrichters im Vorverfahren drängt es sich hier auf, im Sinne eines Korrektivs den Staatsanwalt zu verpflichten, sowohl die belastenden wie auch die entlastenden Beweismittel mit gleicher Sorgfalt zu erforschen und bis zu einem gewissen Grade auch nach entlastenden Beweismitteln zu suchen, welche von der Verteidigung nicht offeriert wurden. Im gerichtlichen Hauptverfahren ist der Staatsanwalt indes Partei und es kann von ihm wohl kaum mehr erwartet werden, sich den entlastenden Beweismitteln in gleichem Ausmasse zu widmen wie den belastenden. Diese Pflicht geht im Hauptverfahren quasi auf den urteilenden Richter über.

Montag, Oktober 15, 2007

CHStPO: Kommentar zu Art. 5

Art. 5 Beschleunigungsgebot
1 Die Strafbehörden nehmen die Strafverfahren unverzüglich an die Hand und bringen sie ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss.
2 Befindet sich eine beschuldigte Person in Haft, so wird ihr Verfahren vordringlich durchgeführt.


Der Anspruch auf Verfahrensbeschleunigung ergibt sich auch aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Demnach hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache innert angemessener Frist gehört wird. Bezüglich der Frage, welche Dauer in einem Strafverfahren noch als angemessen betrachtet werden kann, gibt es nach der Rechtsprechung der Strassburger Organe keine bestimmten Zeitgrenzen. Diese Frage ist somit im jeweiligen Einzelfall zu beurteilen, wobei sowohl das Verhalten der Strafverfolgungsbehörden, wie auch dasjenige des Beschuldigten, aber auch die Komplexität der Sache zu beachten sind. Die Frist, deren Angemessenheit zu beachten ist, beginnt mit der offiziellen amtlichen Mitteilung der zuständigen Behörde an den Betroffenen, dass ihm die Begehung einer Straftat angelastet werde.

Gemäss konstanter Rechtsprechung kommen im Falle einer festgestellten Verletzung des Beschleunigungsgebotes primär folgende Sanktionen in Frage: Berücksichtigung im Rahmen der Strafzumessung oder Schuldigsprechung des Täters unter gleichzeitigem Verzicht auf Strafe. Die Einstellung des Strafverfahrens, ohne dass zufolge der Verfahrensverzögerung schon die Verjährung eingetreten wäre, ist zwar nicht ganz auszuschliessen, kommt jedoch nur in ganz aussergewöhnlichen Fällen in Betracht. Einerseits muss das Ausmass der Verfahrensverzögerung besonders schwer wiegen. Andererseits muss die Dauer des Verfahrens mit besonderen Belastungen für den Beschuldigten verbunden gewesen sein (bspw. Untersuchungshaft von längerer Dauer).

Bei der Sanktionierung der Verletzung des Beschleunigungsgebotes ist grundsätzlich neben der Schwere der dadurch entstandenen Belastung für den Beschuldigten auch die Schwere der ihm vorgeworfenen Straftaten und die Höhe der ohne Strafmilderung zu erwartenden Strafe zu berücksichtigen. Mitberücksichtigt werden müssen jedoch auch allfällige Interessen von Geschädigten, die die Verfahrensverzögerung nicht zu vertreten haben (siehe zum ganzen BGE 117 IV 124).

In einem Urteil v. 1.7.92 entschied die Kommission des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte betreffend einen Wirtschaftsstraffall, die Verfahrensdauer von 12 Jahren stelle unter Berücksichtigung der Komplexität der Sache noch keine Verletzung des Beschleunigungsgebotes dar (VPB 56.54).

Zu Abs. 2:
Eine besondere Bedeutung kommt dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen zu. Dabei obliegt es, abgesehen von der Verpflichtung der Strafuntersuchungsorgane zu besonders beförderlicher Verfahrensführung, primär dem Haftprüfungsrichter, im Rahmen der Bewilligung der Haftanordnung oder Haftverlängerung allfälligen sich abzeichnenden Verletzungen des Beschleunigungsgebotes zu begegnen, indem den Untersuchungsorganen entsprechende Fristen gesetzt werden resp. die Haft nur für die unter Beachtung des Beschleunigungsgedankens noch akzeptable Dauer zu bewilligen ist. In besonders krassen Fällen kann die Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes im Haftverfahren geeignet sein, die Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft in Frage zu stellen, was zu einer Haftentlassung zu führen hat. In der Praxis kommt dies jedoch äusserst selten vor.

Beispiele aus der Praxis in Haftfällen:

BGE 128 I 149: Der Beschuldigte legte im März 2001 ei n Geständnis bezüglich der Begehung von Sexualdelikten ab. Im Mai 2001 wurde ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben. Am 5. Juli wurden noch diverse Einvernahmen durchgeführt, worauf das Verfahren bis im Dezember 2001 ruhte. Am 20.12.2001 teilte der Gutachter der Bezirksanwältin mit, dass er sich als befangen erachte. Das Bundesgericht stellte fest, dass das Verfahren während acht Monaten faktisch geruht habe und dies eine unentschuldbare Verzögerung des Verfahrens darstelle. Diese erscheine als gravierend, aber noch nicht als derart krass, dass sie eine Haftentlassung zu rechtfertigen vermöge. Das Bundesgericht stellte indes auch fest, dass es sich hier um einen Grenzfall handle (zu einem Fall, der eine sofortige Haftentlassung gebiete).

Urteil vom 22.9.2006: Am 2.2.2006 wurde der polizeiliche Schlussbericht erstellt. Am 12.4.2006 führte der Staatsanwalt die Schlusseinvernahme mit dem Beschuldigten durch. Dieser stellte am 20.4.2006 weitere Beweisanträge, die der Staatsanwalt guthiess und daraufhin am 18.8.2006 einen Zeugen einvernahm. Gestützt auf diese Zeugeneinvernahme dehnte der Staatsanwalt das Strafverfahren aus. Das Bundesgericht stellte fest, dass der schleppende Rhythmus des staatsanwaltlichen Vorgehens unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebotes gewisse Bedenken erwecke. Eine besonders schwere Verfahrensverzögerung, welche die Rechtmässigkeit der Haft in Frage stellen würde, liege jedoch nicht vor.

Einen der seltenen Fälle, in denen das Bundesgericht zufolge einer festgestellten Verletzung des Beschleunigungsgebotes die sofortige Haftentlassung des Beschuldigten anordnete betrifft den folgenen Entscheid vom 30.5.2001: Der Beschuldigte in einem Fall eines umfangreichen Betrugsstrafvefahrens mit mehreren Deliktsphasen befand sich seit beinahe 1 Jahr in Untersuchungshaft. Das Bundesgericht stellte fest, es gehe nicht an, dass das Untersuchungsrichteramt einfach die polizeilichen Ermittlungen abwarte und erst dann mit der Vornahme eigener Untersuchungshandlungen beginne. Es kam zum Schluss, dass eine schwerwiegende Verletzung des Beschleunigungsgebotes vorliege. Das Bundesgericht traute dem Untersuchungsrichteramt zudem nicht zu, in absehbarer Zeit das bisher versäumte nachzuholen und ordnete daher die umgehende Haftentlassung des Beschuldigten an.

Samstag, Oktober 13, 2007

CHStPO: Kommentar zu Art. 4/14

Art. 4 Unabhängigkeit
1 Die Strafbehörden sind in der Rechtsanwendung unabhängig und allein dem Recht verpflichtet.
2 Gesetzliche Weisungsbefugnisse nach Artikel 14 gegenüber den
Strafverfolgungsbehörden bleiben vorbehalten.

Art. 14 Bezeichnung und Organisation der Strafbehörden
1 Bund und Kantone bestimmen ihre Strafbehörden und deren Bezeichnungen.
2 Sie regeln Wahl, Zusammensetzung, Organisation und Befugnisse der Strafbehörden, soweit dieses Gesetz oder andere Bundesgesetze dies nicht abschliessend regeln.
3 Sie können Ober- oder Generalstaatsanwaltschaften vorsehen.
4 Sie können mehrere gleichartige Strafbehörden einsetzen und bestimmen für diesen Fall den jeweiligen örtlichen und sachlichen Zuständigkeitsbereich;
ausgenommen sind die Beschwerdeinstanz und das Berufungsgericht.
5 Sie regeln die Aufsicht über ihre Strafbehörden.


Art. 4 und Art. 14 regeln die Organisation der Strafbehörden (Strafverfolgungsbehörden, Strafgerichte). Aufgrund des engen thematischen Zusammenhanges erfolgt die Kommentierung dieser beiden Bestimmungen zusammen.

Art. 4 garantiert die Unabhängigkeit der Strafbehörden in der Rechtsanwendung. In organisatorischer und disziplinarischer Hinsicht ist es indessen zulässig, eine staatliche Instanz mit einer Weisungsbefugnis g.ü. den Strafbehörden auszustatten. Die Weisungsbefugnis in administrativer Hinsicht ist jedoch in einem Gesetz festzulegen. Solche Weisungen können dazu dienen, die administrative Aufsicht zu konkretisieren (s. Botschaft, BBl 2006, S.1129).

Was die Unabhängigkeit der Strafgerichte anbelangt, ist diese bereits in höherrangigen Rechtserlassen festgeschrieben (Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 IPBPR {Internationaler Pakt vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte }). Demgegenüber sind die Staatsanwaltschaften nach herkömmlichem Verständnis Teil der Verwaltung. Die Unabhängigkeit des Staatsanwalts in der Rechtsanwendung ist somit keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Umso begrüssenswerter ist es, wenn die CHStPO nun auch die staatsanwaltliche Unabhängigkeit explizit verankert.

Die Kantone sind gemäss Art. 14 Abs. 5 frei in der Gestaltung der Aufsicht über die Strafbehörden. Die Frage, wer die Staatsanwälte zu beaufsichtigen hat, wird beim Bund derzeit mit viel Emotionen diskutiert und ist daher von einer gewissen Brisanz. Im Vordergrund stehen wohl zwei Lösungsansätze: die Aufsicht durch den Justizminister (oder die Gesamtregierung) birgt die Gefahr der Einmischung politisch besetzter Behörden in den Gang der Strafjustiz in sich. Auf der anderen Seite ist die Aufsicht durch gerichtliche Instanzen auch nicht ganz unproblematisch, zumindest, wenn es um gerichtliche Instanzen geht, die gleichzeitig im Bereiche der Strafjustiz tätig sind. In diesem Fall könnte wiederum die richterliche Unabhängigkeit gefährdet sein, wenn etwa ein Gericht über einen Straffall zu urteilen hat, welches gleichzeitig die administrative Aufsicht über die Staatsanwaltschaft innehat. Einig ist man sich in der aktuellen Diskussion beim Bund wohl dahingehend, dass die geteilte Aufsicht (in fachlicher und administrativer Hinsicht) wohl nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Wie schwer die Trennung zwischen fachlicher und administrativer Aufsicht im Einzelfall sein kann, hat sich gerade im Falle des früheren Bundesanwaltes gezeigt. Da die „fachliche Beurteilung“ der Arbeit des Staatsanwaltes in einem konkreten Fall notwendigerweise durch die in diesem Fall urteilenden Gerichte zu erfolgen hat, kann man sich mit Fug und Recht fragen, inwiefern darüber hinaus denn überhaupt noch Raum für eine generelle fachliche Aufsicht durch eine gerichtliche Behörde besteht.

Eine neue Idee hinsichtlich Beaufsichtigung der Bundesanwaltschaft wurde heute publik. Sie stammt vom neuen Bundesanwalt Erwin Beyeler. Dieser schlägt vor, die Bundesanwaltschaft durch ein gemischt zusammengesetztes Fachinspektorat (mit Angehörigen des Bundesstrafgerichtes, des EJPD und des Parlamentes) zu beaufsichigen. Diese Idee ist sicher prüfenswert.

Donnerstag, Oktober 11, 2007

CHStPO: Kommentar zu Art. 3

Art. 3 Achtung der Menschenwürde und Fairnessgebot
1 Die Strafbehörden achten in allen Verfahrensstadien die Würde der vom Verfahren betroffenen Menschen.
2 Sie beachten namentlich:
a. den Grundsatz von Treu und Glauben;
b. das Verbot des Rechtsmissbrauchs;
c. das Gebot, alle Verfahrensbeteiligten gleich und gerecht zu behandeln und ihnen rechtliches Gehör zu gewähren;
d. das Verbot, bei der Beweiserhebung Methoden anzuwenden, welche die Menschenwürde verletzen.


Ich will mich hier nicht über die in lit. a – d statuierten Grundsätze auslassen. Hierüber kann in jedem Strafprozesslehrbuch nachgelesen werden. Interessant an Art. 3 erscheint mir vielmehr, dass der Schöpfer dieser Bestimmung offenbar erkannt hat, dass das Strafverfahren sich nicht nur um den Beschuldigten dreht. Das ist alles andere als selbstverständlich, dennoch aber richtig. Gerade in jüngster Zeit setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass das Strafverfahren nicht primär dem Wohl des Straftäters dienen soll, sondern nicht zuletzt auch dem Opfer.

Die auch noch nicht allzu alte Solothurner Strafprozessordnung beispielsweise scheint mir diesen Gedanken noch nicht so ganz erfasst zu haben. So lautet etwa § 1, der ebenfalls unter dem Titel Achtung der Menschenwürde steht, lapidar:

Im ganzen Verfahren ist der Beschuldigte als Mensch zu achten. Die Umstände, die für und wider ihn sprechen, sind mit gleicher Sorgfalt abzuklären.

Wo bleibt da die Würde des Opfers ? Zugunsten des Solothurnischen Gesetzgebers will ich mal annehmen, dass diese als selbstverständlich vorausgesetzt wird.

Bemerkenswert ist daher auch, lit. c, die gebietet, alle Verfahrensbeteiligten gleich und gerecht zu behandeln und ihnen das rechtliche Gehör (in gleichem Umfang) zu gewähren. Dies ist im üblicherweise auf den Beschuldigten fokussierten Strafprozess sicherlich keine Selbstverständlichkeit.

Dienstag, Oktober 09, 2007

CHStPO: Kommentar zu Art. 2

Art. 2 Ausübung der Strafrechtspflege
1 Die Strafrechtspflege steht einzig den vom Gesetz bestimmten Behörden zu.
2 Strafverfahren können nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden.


Abs. 1 statuiert das Strafmonopol des Staates. Die historische Entwicklung des staatlichen Strafmonopols hat einen langen Weg hinter sich. Während über tausend Jahren der Weltgeschichte herrschte das Vergeltungssystem der Fehde vor. Bei den Germanen diente die Fehde (also die Regulierung von Rechtsbrüchen direkt zwischen Geschädigtem und Schädiger unter Ausschluss einer übergeordneten Instanz) noch zur Verteidigung des Hausfriedens. Bereits das römische Recht kannte jedoch Ansätze unseres heutigen Strafrechtswesens. Auch wenn das Strafrecht nicht im Mittelpunkt der römischen Rechtskultur stand, so sind bspw. im sog. Zwölftafelgesetz (450 v. Chr.) erste Ansätze unseres heutigen modernen Strafrechts ersichtlich. Die zwölfte Tafel regelte die Sanktionierung des Verbrechens. So etwa: Si vindiciam falsam tulit, si velit is . . . tor arbitros tris dato, eorum arbitrio . . . fructus duplione damnum decidito (Wer eine falsche Behauptung aufstellt, soll vor drei Richter gestellt werden, und auf das Doppelte verurteilt werden).

Eine erste umfassende Einschränkung des Fehdewesens gelang Kaiser Friedrich II. 1235 mit dem sog. Mainzer Landfrieden.

Bis in die Neuzeit erhalten blieben Ansätze des Fehdegedankens im Kanun, dem überlieferten Albanischen Gewohnheitsrecht. Auch der Kanun ist jedoch alles andere als rudimentäres Faustrecht. Das 10. Buch, der sog. Kanun gegen das Verbrechen, enthält zahlreiche Regeln über die Sühne von Verbrechen. Auch wenn der Kanun der Sippe und dem Blut eine starke Bedeutung beimisst, geht es keinesfalls um die Legalisierung der Blutrache (die Bedeutung der Blutrache im Kanun wird heute weitgehend missverstanden), So beginnt etwa das 8. Kapitel, das den Titel „Blut bleibt für Blut“ trägt wie folgt: „Wenn zwei sich gegenseitig töten, nachdem sie in Streit gerieten, beide sterben - dann sei Kopf für Kopf, Blut für Blut. Dies muß aber, um Weiterungen zu hindern, durch Vermittler befriedet werden. In diesem Fall können die Häuser der Getöteten voneinander keine Entschädigung fordern. Sie werden nach dem Kanun durch Bürgschaft gebunden.“ Das 9. Kapitel träge den Titel „Blut sei nicht für eine Schuld“ und beginnt wie folgt: „Jede Schuld, die ein Albaner gegen einen Albaner verübt, hat er das Recht, durch Altenrat und Pfänder zu ahnden; der Betroffene darf aber für solche Schuld nicht töten. Denn das Blut sei nicht für die Schuld.” In diesen Bestimmungen sind ebenfalls Ansätze des Beizuges von amtlichen Streitschlichtern ersichtlich.

Interessanterweise wird heute das staatliche Strafverfolgungsmonopol ansatzweise wieder in Frage gestellt. Zu denken sei etwa an die in gewissen Quartieren organisierten „Quartierwehren“ oder die zunehmende Inanspruchnahme privater Sicherheitsdienste durch Gemeinden in Folge der in den meisten Kantonen zunehmend zentralisierten Polizeiorganisation. Solche Bestrebungen sind Ausdruck eines in der Bevölkerung sich entwickelnden Unbehagens angesichts eines vermeintlichen Versagens der staatlichen Sicherheitspolitik. Interessant ist auch die Reaktion des Staates darauf: So hat etwa der Kanton Solothurn mit Kantonsratsbeschluss vom 15.5.2007 im Gesetz über die Kantonspolizei den Status des Polizeilichen Sicherheitsassistenten (eines im Angestelltenverhältnis tätigen Staatsangestellten mit beschränkten polizeilichen Befugnissen) geschaffen.

Vor diesem historischen Hintergrund ist Art. 2 Abs. 1 der Schweizerischen Strafprozessordnung durchaus eine wichtige und auch notwendige Bestimmung, quasi ein Bollwerk gegen die Privatisierung der Strafverfolgung im weiteren Sinne.

Abs. 2 statuiert den Grundsatz der Formstrenge. Ein Strafverfahren ist förmlich zu eröffnen und entsprechend zu dokumentieren und kann nur auf eine gesetzlich genau vorgeschriebene Art und Weise erledigt werden (namentlich durch Einstellung, Anklageerhebung oder Strafbefehl).

Sonntag, Oktober 07, 2007

Schweizerische Strafprozessordnung - Ein strafprozessualer "Adventskalender": Nachtrag

Selbstverständlich freut sich Labeo über sämtliche ergänzenden Kommentare zu den jeweiligen Bestimmungen der Schweizerischen Strafprozessorndung. Labeo möchte hiermit alle Experten des Strafprozessrechts, Praktiker oder sonstige Interessierte herzlich dazu einladen, ihre ergäneznden Kommentare zu hinterlassen (Link "Comments" anklicken). Wer weiss vielleicht entsteht auf diese Weise der erste interaktive Gesetzeskommentar. Vor einer allfälligen Publikation in anderer Form wird Labeo selbstverständlich mit sämtlichen Kommentatoren Vebindung aufnehmen. Über die Herausgeber-Rechte und die Verteilung eines allfälligen Gewinnes werden wir uns sicherlich einigen können ;=)

CHStPO: Kommentar zu Art. 1

Art. 1 Geltungsbereich
1 Dieses Gesetz regelt die Verfolgung und Beurteilung der Straftaten nach Bundesrecht durch die Strafbehörden des Bundes und der Kantone.
2 Die Verfahrensvorschriften anderer Bundesgesetze bleiben vorbehalten.


Was hier in zwei Absätzen so lapidar daher kommt, dass man es schon fast als eine Selbstverständlichkeit erachten könnte, ist das Ergebnis eines langwierigen und teilweise auch mühsamen politischen Prozesses. In der Tat hat sich die Schweiz seit dem Inkrafttreten des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) im Jahre 1942 während bisher 65 Jahren den Luxus geleistet, weiterhin 29 Strafprozessordnungen „zu unterhalten“ (26 kantonale Strafprozessordnungen, und drei Strafprozessordnungen des Bundes: Bundesstrafprozess, BStP; Verwaltungsstrafrecht, VStrR; Militärstrafprozess, MStP). Eine Vereinheitlichung des Strafprozesses wurde zwar im Vorfeld der Einführung des StGB diskutiert, jedoch als nicht unbedingt nötig angesehen.

Im Jahre 1994 hatte der damalige Justizminister Arnold Koller eine Expertenkommission eingesetzt, mit dem Auftrag, zu prüfen, «ob im Interesse einer wirksamen Strafverfolgung, insbesondere in den Bereichen der Wirtschaftskriminalität und des organisierten Verbrechens, eine vollständige oder teilweise Vereinheitlichung des Strafprozessrechts oder andere zweckdienliche Massnahmen angezeigt seien». Im Dezember 1997 legte die Kommission das Ergebnis ihrer Arbeit unter dem Titel „Aus 29 mach 1" vor. Diese Vision, alle 29 Strafprozessordnungen in einer einzigen Strafprozessordnung aufgehen zu lassen, wird jedoch nicht verwirklicht werden. Gemäss dem Vorbehalt in Artikel 1 Abs. 2 bleiben der MStP und das VStrR weiterhin in separaten Gesetzen bestehen. Ebenfalls nicht von der Vereinheitlichung betroffen sind auf Bundesebene das Ordnungsbussenverfahren, welches weiterhin im Ordnungsbussengesetz (OBG) separat geregelt ist sowie die Bestimmungen im Bundesgerichtsgesetz zur Tätigkeit des Bundesgerichtes als Rechtsmittelinstanz. Auf kantonaler Ebene bleibt den Kantonen gemäss Art. 335 StGB nach wie vor die Regelung des Verfahrens btr. das kantonale Strafrecht vorbehalten, so namentlich auch das Verfahren bei Steuerdelikten.

Andererseits werden zahlreiche strafprozessuale Bestimmungen, welche heute in verschiedene Erlasse zerstreut sind, in die Schweizerische Strafprozessordnung integriert. Dazu gehören Bestimmungen im Rechtshilfekonkordat, im OHG, im BVE , im BÜPF, im DNA-Profil-Gesetz sowie last but not least im StGB. Ebenfalls in einem separaten Gesetz geregelt werden soll der Jugendstrafprozess.

Samstag, Oktober 06, 2007

Schweizerische Strafprozessordnung - Ein strafprozessualer "Adventskalender"

Nun ist es also soweit, der definitive Text der Schweizerischen Strafprozessordnung liegt seit gestern vor. National- und Ständerat haben die Vorlage gestern praktisch oppositionslos verabschiedet. Mit einem Referendum rechnet niemand.

Spätestens am 1.10.2010 soll die Schweizerische StPO in Kraft treten. Angesichts des stolzen Umfanges von nicht weniger als 457 Artikeln wird es also nun höchste Zeit für den Praktiker, sich mit den neuen Bestimmungen zu befassen.

Labeo nimmt das bevorstehende Inkrafttreten dieses epochalen Werks, welches die Strafprozesslandschaft in der ganzen Schweiz entscheidend verändern wird, zum Anlass sich in seinem Blog bis zum 1.1.2010 schwerpunktmässig damit zu befassen. Labeo wird in den kommenden längestens 816 Tagen zu jedem Artikel der Schweizerischen StPO einen Kurzkommentar verfassen.

Der so entstehende Kommentar zur Schweizerischen StPO nimmt keineswegs wissenschaftlichen Charakter für sich in Anspruch. Hiezu fehlt Labeo die erforderliche Fachkompetenz. Dies werden andere besorgen. Die Absicht ist vielmehr, dem geneigten Leser und allen Interessenten der neuen Schweizerischen StPO das lesen des Gesetzestextes etwas lustvoller zu gestalten. Die Kommentare von Labeo sind nicht immer ganz ernst gemeint. Es geht ihm vielmehr darum, die einzelnen Artikel in Bezug zur heutigen Praxis des Strafprozessrechts zu setzen und jeweils auch eine Verbindung zu aktuellen Themen herzustellen. Nicht zu kurz kommen sollen dabei auch rechtshistorische und philosophische Aspekte.

Ich wünsche Ihnen in den kommenden 816 Tagen viel Vergnügen mit dem strafprozessualen Adventskalender, der Ihnen praktisch jeden zweiten Tag ermöglichen wird, ein neues Türchen zu öffnen, resp. einen neuen Artikel zu entdecken.

Die weniger geduldigen Leser, die nicht 816 Tage warten möchten, können natürlich auch den ganzen Gesetzestext, der auf diesem Blog neu verlinkt wurde, auf einmal lesen.

Wegweisendes Raserurteil

Wer die jüngere Rechtsprechung verfolgt, welche sich mit sog. Raserfällen befasst, dem ist sicherlich schon aufgefallen, dass in diesem Bereich seit einigen Jahren eine deutliche Tendenz zu härteren Urteilen zu verzeichnen ist. Diese Tendenz setzte unlängst das Zürcher Obergericht - auch unter der Geltung des neuen Sanktionensystems des StGB - fort.

Ein in seiner Härte bisher wohl einmaliges Urteil hatte in dieser Sache bereits das Bezirksgericht Zürich Ende 2006 gefällt (s. etwa die Berichterstattung auf der Homepage von RoadCross). Es verurteilte einen damals 19-jährigen Mann, der im Dezember 2004 in Schlieren die Höchstgeschwindigkeit innerorts um mindestens 85 kmh überschritt zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 2 Jahren. Die Strafe war deshalb bemerkenswert und in der bisherigen Rechtsprechung wohl einmalig, weil es sich um einen Ersttäter handelte und als Folge des Unfalls "lediglich" Sachschaden zu verzeichnen war. Verletzt wurde niemand.

Wie einem Bericht des Tagesanzeigers, welcher vor ein paar Tagen erschien, zu entnehmen ist, hat nun das Obergericht die harte Strafe der Vorinstanz gestützt. Dem seit 1.1.2007 geltenden neuen Strafrecht kann es der Verurteilte verdanken, dass er von den 2 Jahren, die ihm das Obergericht aufbrummte (der Staatsanwalt forderte 2 1/2 Jahre, nunmehr lediglich noch 12 Monate abzusitzen hat. Das Gericht machte von der Möglichkeit des teilbedingten Strafvollzuges Gebrauch.

Was sich jedoch der Beschuldigte von den drei Oberrichtern anhören musste, war allerhand: "Es ist eine Schweinerei, was Sie uns hier auftischen", meinte etwa ein Richter. Er sei durch ein Wohngebiet gebrettert und habe "völlig verrückt und wahnsinnig aufs Gaspedal gedrückt, als ob er nicht alle Tassen im Schrank hätte", hielt ihm ein anderer Richter vor. Von einer "absolut skandalösen, Hirnrissigen und wahnwitzigen Raserfahrt" sprach der vorsitzende Richter.

Was das Gericht so in Rage brachte und wohl auch das drakonische Urteil begründet, war der Umstand, dass der Angeklagte völlig uneinsichtig war und ein ganzes Sammelsurium an Ausreden brachte, warum er zu schnell fuhr. Bereits vor Bezirksgericht versuchte er sich damit zu entschuldigen, "nicht ich bin gerast, sondern mein Auto".

Als Weisung zum bedingten Aufschub eines Teils der Strafe von 12 Monaten auferlegte das Obergericht dem Angeklagten zudem ein Verbot, während der Probezeit von 2 Jahren ein anderes Auto als eines der Kategorie F (Höchstgeschwindigkeit 45kmh) zu fahren.

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