Dienstag, Oktober 23, 2007

CHStPO: Kommentar zu Art. 9

Art. 9 Anklagegrundsatz
1 Eine Straftat kann nur gerichtlich beurteilt werden, wenn die Staatsanwaltschaft gegen eine bestimmte Person wegen eines genau umschriebenen Sachverhalts beim zuständigen Gericht Anklage erhoben hat.
2 Das Strafbefehls- und das Übertretungsstrafverfahren bleiben vorbehalten.


Das Bundesgericht umschreibt die Funktion des Anklagegrundsatzes in BGE 126 I 19 wie folgt: "Der Anklagegrundsatz verteilt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Aufgaben zwischen den Untersuchungs- bzw. Anklagebehörden einerseits und den Gerichten andererseits. Er bestimmt den Gegenstand des Gerichtsverfahrens. Die Anklage hat die dem Angeklagten zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe genügend konkretisiert sind. Das Anklageprinzip bezweckt zugleich den Schutz der Verteidigungsrechte des Angeschuldigten und dient dem Anspruch auf rechtliches Gehör (BGE 120 IV 348 E. 2b S. 353 f. mit Hinweisen). Nach Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK hat der Angeschuldigte Anspruch darauf, in möglichst kurzer Frist über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden. Diese Angaben schliessen es allerdings nicht aus, dass eine spätere Verurteilung wegen eines gleichartigen oder geringfügigeren Delikts erfolgt. Das Gericht ist an den in der Anklage wiedergegebenen Sachverhalt gebunden, nicht aber an dessen rechtliche Würdigung durch die Anklagebehörde."

Gemäss BGE 133 IV 93 ist es nicht zulässig, auf eine ungenügende Anklage mit Endentscheid nicht einzutreten. Da der Beschuldigte grundsätzlich Anrecht auf ein Sachurteil hat. Auch der Grundsatz der materiellen Wahrheitsfindung, das Prinzip der Verfahrenseinheit sowie die Prozessökonomie gebieten, dass eine ungenügende Anklageschrift zur Verbesserung an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen ist. In diesem Sinne hat sich auch das Solothurner Obergericht im sog. „Vera-Pevos-Fall“ ausgesprochen. Auch Art. 329 Abs. 2 CHStPO sieht diesen Weg vor. Bereits aus dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 (Eine Straftat kann nur gerichtlich beurteilt werden, wenn) folgt im Umkehrschluss, dass ohne genügende Anklage ein Urteil nicht ergehen kann. So wäre es z.B. auch nicht zulässig, den Angeklagten wegen Verletzung des Anklagegrundsatzes freizusprechen.

Was die Anklageschrift zu enthalten hat, regeln die Art. 325 und 326 CHStPO. Art. 333 befasst sich mit Änderungen und Erweiterung der Anklage. Eine weitere wichtige Bestimmung, die das Anklageprinzip umschreibt, ist Art. 350 Abs. 2. Dieser bestimmt, dass das Gericht an den in der Anklageschrift umschriebenen Sachverhalt, nicht aber an die rechtliche Würdigung gebunden ist.

Ein besonders eklatanter Fall einer Verletzung des Anklagegrundsatzes ist nachzulesen in Franz Kafkas „Der Process“ . Die Handlung kurz zusammengefasst: „Als Josef K. am Morgen seines 30. Geburtstags in seinem Zimmer aufwacht, bringt ihm die Köchin seiner Zimmervermieterin nicht sein Frühstück, wie sie es sonst jeden Tag tut. K. wird stattdessen von zwei Männern überrascht und festgehalten. Die beiden wenig auskunftsfreudigen Zeitgenossen teilen ihm mit, dass er von nun an verhaftet sei. Die beiden Männer geben an, von einer Behörde zu kommen, und behaupten, sie könnten und dürften ihm nicht sagen, warum er verhaftet sei. Trotz seiner Verhaftung darf K. sein Leben in vermeintlicher Freiheit fortführen, da laut beider Männer keinerlei Fluchtgefahr bestehe. K. nimmt zunächst einen üblen Scherz seiner Kollegen an. Im Laufe der Zeit bemerkt er jedoch, dass dies nicht der Fall ist. K. wird zu Gerichtsverhandlungen vorgeladen, bekommt Besuche an seinem Arbeitsplatz und wird zu Hause angerufen. Immer tiefer gerät K. in ein (für Kafka typisches) alptraumhaftes Labyrinth einer surrealen Bürokratie. Im Laufe der Kapitel dringt K. immer tiefer in dieses System ein, er erfährt einiges über die Hierarchien der „Gerichte“, doch nie gelangt er zur höchsten Instanz, nie erfährt er, worin seine „Schuld“ besteht. Gleichzeitig dringt das System immer weiter in K.s Leben ein. Auch entpuppen sich nach und nach immer mehr Menschen in K.s Leben als Teile dieses Räderwerks, wie K. selbst. Er lernt außerdem andere Personen kennen, von denen er sich Auskunft erhofft über das „Gericht“, das ihn anklagt. Immer mehr beschäftigt K. sich mit seinem Prozess, obwohl er das Gegenteil beabsichtigt. In der Realität tun sich Abgründe auf, die sich ausdehnen. Scheinbare Zufälle führen K. weiter von einem Glied im System zum nächsten.“

Wenn man sich in die Haut des Protagonisten in Kafkas Roman, Josef K. versetzt, versteht man sehr gut, was Sinn und Zweck des Anklagegrundsatzes ist. Wer Zeit und Musse hat, den ganzen Roman zu lesen, der kann dies hier tun.

In der Praxis besteht jedoch – wie die in den vorstehend erwähnten Urteilen behandelten Fälle zeigen – eine gewisse Tendenz, den Anklagegrundsatz überzubewerten. Man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass sich Verteidiger und mitunter auch Gerichte den Anklagegrundsatz zu Nutzen machen, um sich nicht mit der Anklage befassen zu müssen. Der wesentliche Aspekt des Anklagegrundsatzes besteht darin, dass der Angeklagte weiss, was ihm vorgeworfen wird und er sich somit dagegen verteidigen kann. Der Anklagegrundsatz sollte jedoch nicht als taktischer Fallstrick für die Staatsanwaltschaft herangezogen werden. Gemäss der Forderung von Art. 325 Abs. 1 lit. f CHStPO hat die Anklageschrift „möglichst kurz, aber genau: die der beschuldigten Person vorgeworfenen Taten mit Beschreibung von Ort, Datum, Zeit, Art und Folgen der Tatausführung“ bezeichnen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

1 Comments:

Anonymous Anonym said...

Cher Labeo,

Vous n'auriez pas pu mieux décrire le principe d'accusation qu'en citant Kafka!

J'aimerais ajouter une remarque sur les informations à donner au prévenu au cours de l'instruction. A mon avis, les art. 6 ch. 3 let. a CEDH et 32 al. 2 Constitution fédérale s'appliquent déjà au cours de l'instruction. Le procureur doit ainsi indiquer au prévenu les charges qui pèsent contre lui dans les plus brefs délais. Une telle indication est indispensable pour que le prévenu puisse "s'exprimer de manière complète sur les infractions en question" (art. 157 al. 2 CPPS). Malheureusement le CPPS ne le prévoit pas expressément, l'art. 158 al. 1 let. a indiquant seulement que le prévenu doit être informé "qu'une procédure préliminaire est ouverte contre lui et pour quelles infractions", alors que ce sont les faits (et non seulement "les infractions") qui sont reprochés au prévenu qu'il importe de lui communiquer.
Il va de soi que l'information donnée au prévenu durant l'instruction sur les charges retenues contre lui ne lie pas le procureur pour la rédaction de l'acte d'accusation.

Le Code de procédure pénale genevois prévoit expressément que le juge d'instruction doit inculper (les français diraient "mettre en examen") le prévenu dès qu'il y a des charges suffisantes, c'est-à-dire informer le prévenu des faits pour lesquels il fait l'objet d'une enquête.

11:01 AM  

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