CHStPO: Kommentar zu Art. 69 - 72
Art. 69 Grundsätze
1 Die Verhandlungen vor dem erstinstanzlichen Gericht und dem Berufungsgericht sowie die mündliche Eröffnung von Urteilen und Beschlüssen dieser Gerichte sind mit Ausnahme der Beratung öffentlich.
2 Haben die Parteien in diesen Fällen auf eine öffentliche Urteilsverkündung verzichtet oder ist ein Strafbefehl ergangen, so können interessierte Personen in die Urteile und Strafbefehle Einsicht nehmen.
3 Nicht öffentlich sind:
a. das Vorverfahren; vorbehalten bleiben Mitteilungen der Strafbehörden an die Öffentlichkeit;
b. das Verfahren des Zwangsmassnahmengerichts;
c. das Verfahren der Beschwerdeinstanz und, soweit es schriftlich durchgeführt wird, des Berufungsgerichts;
d. das Strafbefehlsverfahren.
4 Öffentliche Verhandlungen sind allgemein zugänglich, für Personen unter 16 Jahren jedoch nur mit Bewilligung der Verfahrensleitung.
Art. 70 Einschränkungen und Ausschluss der Öffentlichkeit
1 Das Gericht kann die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen ganz oder teilweise ausschliessen, wenn:
a. die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder schutzwürdige Interessen einer beteiligten Person, insbesondere des Opfers, dies erfordern;
b. grosser Andrang herrscht.
2 Ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen, so können sich die beschuldigte Person, das Opfer und die Privatklägerschaft von höchstens drei Vertrauenspersonen begleiten lassen.
3 Das Gericht kann Gerichtsberichterstatterinnen und Gerichtsberichterstattern und weiteren Personen, die ein berechtigtes Interesse haben, unter bestimmten Auflagen
den Zutritt zu Verhandlungen gestatten, die nach Absatz 1 nicht öffentlich sind.
4 Wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen, so eröffnet das Gericht das Urteil in einer öffentlichen Verhandlung oder orientiert die Öffentlichkeit bei Bedarf in anderer geeigneter Weise über den Ausgang des Verfahrens.
Art. 71 Bild- und Tonaufnahmen
1 Bild- und Tonaufnahmen innerhalb des Gerichtsgebäudes sowie Aufnahmen von Verfahrenshandlungen ausserhalb des Gerichtsgebäudes sind nicht gestattet.
2 Widerhandlungen können nach Artikel 64 Absatz 1 mit Ordnungsbusse bestraft werden. Unerlaubte Aufnahmen können beschlagnahmt werden.
Art. 72 Gerichtsberichterstattung
Bund und Kantone können die Zulassung sowie die Rechte und Pflichten der Gerichtsberichterstatterinnen und Gerichtsberichterstatter regeln.
Art. 69:
Der Grundsatz der Öffentlichkeit von Verfahren vor staatlichen Gerichten ist bereits in Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 30 Abs. 3 BV verankert. Er hat zwei Stossrichtungen. Einerseits soll er den am Verfahren beteiligten Personen eine korrekte Behandlung gewährleisten. Andererseits soll der Öffentlichkeit ermöglicht werden, festzustellen, "wie das Recht verwaltet und die Rechtspflege ausgeübt wird" BGE 133 I 106. Das Öffentlichkeitsprinzip liegt somit auch im öffentlichen Interesse, indem es eine öffentliche Kontrolle der Rechtspflege ermöglicht.
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen Parteiöffentlichkeit und Publikumsöffentlichkeit. Als Teilaspekt der Publikumsöffentlichkeit erscheint auch die mittelbare Öffentlichkeit (Presseöffentlichkeit). Publikumsöffentlich sind prinzipiell die Hauptverhandlung vor erster Instanz und vor der Berufungsinstanz. Demgegenüber ist das Vorverfahren grundsätzlich lediglich parteiöffentlich und nicht publikumsöffentlich.
Desweitern bestehen Berührungspunkte zwischen dem Grundsatz der Öffentlichkeit und dem der Mündlichkeit. Das Verfahren kann nur soweit öffentlich sein, als es auch mündlich ist. Ist das Berufungsverfahren ausnahmsweise schriftlich, so ist es auch nicht öffentlich. Ebensowenig öffentlich ist das Strafbefehlsverfahren. Keinesfalls öffentlich ist indes das Verfahren vor dem Zwangsmassnahmengericht, selbst dann, wenn es mündlich ist.
Sofern die Parteien auf eine mündliche Urteilsverkündung verzichtet haben, können Interessierte in die Urteile Einsicht nehmen. Diese gilt auch für die Strafbefehle (Abs. 2).
Art. 70:
Unter bestimmten Voraussetzungen (Abs. 1) kann das Gericht die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausschliessen. Hievon ist jedoch lediglich mit grosser Zurückhaltung Gebrauch zu machen. Was schutzwürdige Interessen von Verfahrensbeteiligten anbelangt, welche einen Ausschluss der Öffentlichkeit rechtfertigen können, ist primär an die Interessen des Opfers zu denken. Der Angeschuldigte hingegen hat die mit jeder öffentlichen Verhandlung notgedrungenermassen verbundenen Eingriffe in seine persönlichen Verhältnisse in aller Regel hinzunehmen BGE 119 Ia 99.
Ist die Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung ausgeschlossen worden, so können sich der Angeschuldigte, das Opfer sowie die Privatklägerschaft von je höchstens 3 Vertrauenspersonen begleiten lassen (dies gewährleistet zumindest eine in gewisser Weise reduzierte oder selektive Öffentlichkeit (Abs. 2). Es ist nach Möglichkeit auch zumindest die mittelbare Öffentlichkeit zu gewährleisten, indem den Vertretern der Medien unter bestimmten Auflagen die Teilnahme und Berichterstattung über den Prozess erlaubt wird (Abs. 3). Ebenfalls hat die Urteilseröffnung in diesem Fall öffentlich zu erfolgen oder die Öffentlichkeit ist auf geeignete Weise über den Ausgang des Verfahrens zu orientieren (Abs. 4).
Art. 71:
Eine generelle Einschränkung erhält der Öffentlichkeitsanspruch hinsichtlich des Verbots von Bild- und Tonaufnahmen innerhalb des Gerichtsgebäudes oder anlässlich von Verfahrenshandlungen des Gerichts ausserhalb des Gerichtsgebäudes. Art. 71 sieht keine Ausnahmen vor. Im Gegensatz etwa zum angloamerikanischen Rechtssystem hat die sog. "Live-Gerichtsberichterstattung" ("Court-TV") in der Schweiz keine Tradition.
Art. 72:
Diese Bestimmung befasst sich mit der mittelbaren Öffentlichkeit. Bund und Kantone können die Zulassung sowie die Rechte und Pflichten der Gerichtsberichterstatter regeln. Zulässig wäre etwa ein sog. Akkreditierungssystem.