Die heutige Ausgabe des Tagesanzeigers berichtet über einen in jeder Hinsicht aussergewöhnlichen Strafprozess. Vor Gericht hat sich ein Psychoanalytiker freudscher Richtung zu verantworten. Ihm wird fahrlässige schwere Körperverletzung vorgeworfen. Die Anklage gründet auf folgendem Sachverhalt:
"Eine Hobbysportschützin hatte an ihrem 40. Geburtstag eine ihrer zwei Sportpistolen auf ihren damaligen Freund Philipp gerichtet. Er konnte ihr die Waffe nach Zureden wegnehmen. Daraufhin beschlagnahmte die Polizei die zwei Pistolen. Sie erhalte sie zurück, wenn sie ein ärztliches Zeugnis vorlege, das ihr psychische Stabilität attestiere, liess die Polizei wissen. Die Frau wandte sich an den Psychoanalytiker. Nach rund einstündigem Gespräch stellte er ihr die verlangte Unbedenklichkeitserklärung aus...Die Frau erhielt ihre Waffen zurück. Drei Monate später besuchte sie im Zürcher Unterland ihren Ex-Freund Daniel mit einer durchgeladenen Pistole in ihrer Handtasche. Die Begegnung endete mit einem Bauchdurchschuss. Der 49-jährige Primarlehrer verblutete nur dank sofortiger ärztlicher Hilfe nicht".
Die Staatsanwaltschaft wirft dem 65-jährigen Arzt und Psychoanalytiker vor, er habe die sogenannte Unbedenklichkeitserklärung abgegeben, "obwohl ihm als Allgemeinarzt und Psychoanalytiker dazu die erforderlichen ausbildungs- und erfahrungsmässigen Voraussetzungen im Sinne einer Fachausbildung in forensisch-psychiatrischer Hinsicht vollständig fehlten". Einen wesentlichen Umstand erblickt die Anklage auch darin, dass die Frau aufgrund eines Selbstmordversuches während Jahren in psychiatrischer Behandlung war. Eben diese Psychiaterin, welche sie behandelte, hat die Unbedenklichkeitserklärung verweigert. Die Patientin wandte sich dann an den Psychoanalytiker, welcher ihr die Unbedenklichkeitserklärung nach einer gemäss Anklage "rudimentären aktuellen psychopathologischen Untersuchung", notabene ohne mit der vorbehandelnden Psychiaterin Kontakt aufzunehmen (dem Angeklagten war die vorgängie Behandlung bekannt), ausstellte.
Die Verteidigung stellt sich demgegenüber auf den Standpunkt, der Angeklagte habe die richtige Diagnose gestellt. Die Vorwürfe der Anklage würden auf einen blossen Methodenstreit zwischen der Schulpsychologie und den Anhängern der freudschen Psychoanalyse hinauslaufen. Zudem habe der Angeklagte die Tat der Explorandin nicht voraussehen können. Schliesslich fehle es auch am Kausalzusammenhang. Die Frau hätte problemlos eine neue Waffe erwerben können.
Leider kann dem Bericht des Tagesanzeigers nicht entnommen werden, vor welchem Gericht dieses Verfahren hängig ist und wann das Urteil verkündet wird. Labeo wird am Ball bleiben. Ich bin sehr gespannt auf das Urteil. Mir scheint, mit dieser Anklage wird strafrechtliches Neuland begangen. Sollte es zu einem Schuldspruch kommen, so könnte dies künftig zahlreiche weitere Anklagen nach sich ziehen. Man denke an die Problematik der forensisch psychiatrischen Begutachtung von Straftätern. Die entscheidende Frage besteht letztendlich darin, inwiefern jemand für straftbare Handlungen eines mündigen Dritten strafrechtlich haftbar gemacht werden kann. Diese Haftung hat man meines Wissens bisher auf die gesetzlich geregelten Teilnahmeformen der Anstiftung oder der mittelbaren Täterschaft beschränkt. Im vorliegenden Fall geht es rein dogmatisch betrachtet um den Fall einer fahrlässigen mittelbaren Täterschaft, ein Konstrukt, welches es bis anhin in Lehre und Rechtsprechung nicht gab.