Dienstag, Januar 10, 2006

Zeugenschutz oder Verteidigungsrechte ?

In einem weitherum Aufsehen erregenden Entscheid vom 19.12.2005 hatte sich das Zürcher Kassationsgericht mit der Frage zu befassen, wie weit der Zeugenschutz im Strafprozess gehen darf, ohne die Verteidigungsrechte in verfassungswidriger Weise zu verletzen.

Das Gericht hatte den Fall eines vom Zürcher Geschworenengericht zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilten Angeklagten zu beurteilen, dem vorgeworfen wird, am 15. Oktober 2001 in Zürich-Schwammendingen den ihm bekannten B. durch einen Genickschuss aus einer Faustfeuerwaffe aus nächster Nähe getötet zu haben. Die Verurteilung erfolgte hauptsächlich aufgrund der Aussage eines anonymen Zeugen, der die Tat beobachtete.

Die Identität dieses Zeugen war nur dem polizeilichen Sachbearbeiter, dem Bezirksanwalt und dem Präsidenten des Geschworenengerichtes bekannt. Sowohl der Beschuldigte wie auch sein Verteidiger konnten die Aussagen des Zeugen jeweils nur in einem Nebenraum mittels Übertragung dessen akkustisch verzerrten Stimme wahrnehmen. Dazu kam, dass der Zeuge einen beträchtlichen Teil der vom Verteidiger gestellten Fragen nicht beantwortete. Fragen, welche Rückschlüsse auf seine Identität zugelassen hätten, wurden jeweils gar nicht zugelassen. Diese Massnahme wurde angeordnet, da der Zeuge glaubhaft dartun konnte, die Offenlegung seiner Identität würde ihn einer grossen Gefahr aussetzen, da er diesfalls einen Racheakt aus dem Umfeld des Täters zu befürchten hätte.

Das Kassationsgericht hat nun die vom Angeklagten erhobene Kassationsbeschwerde gutgeheissen und das Urteil des Geschworenengerichts aufgehoben. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) kam das Kassationsgericht zum Schluss, dass zumindest dem Verteidiger des Angeklagten hätte ermöglicht werden müssen, der Einvernahme des Belastungszeugen unmittelbar und ohne Verdeckung dessen Identität beizuwohnen. Indem dies dem Verteidiger verwehrt wurde, wurden die Verteidigungsrechte des Angeklagten in einem Art. 6 Ziff. 3 lit. d und Art. 6 Ziff. 1 (faires Verfahren) der EMRK verletzenden Ausmass beschnitten. Massgebend in dieser Frage sind insbesondere 2 Entscheide des EGMR:
Doorson v. Niederlande und Van Mechelen v. Niederlande

Das Kassationsgreicht äusserte sich auch zur Frage, welches Gewicht die Aussage eines anonymen Zeugen in einem Strafverfahren haben darf. Das Gericht setzte sich kritisch mit der diesbezüglich strengen Linie des EGMR auseinander. Gemäss dem Strassburger Gericht darf die Aussage eines anonymen Zeugen nur dann berücksichtigt werden, wenn sie "in keiner Hinsicht als entscheidend" für die Verurteilung angesehen werden müsse. Dieser strenge Ansatz des EGMR sei widersprüchlich, so das Kassationsgericht. Wenn die Aussage eines Zeugen in keiner Hinsicht entscheidend sei, so brauche es diesen Zeugen auch nicht und demzufolge bräuchte es auch gar keinen Zeugenschutz.

Gemäss Kassationsgericht sei vielmehr davon auszugehen, dass "Aussagen anonymer Zeugen zwar weiterhin nicht als ausschliessliches oder schwergewichtiges Beweismittel für die Begründung eines Schuldspruchs, aber doch insoweit herangezogen werden dürfen, als sie gewissermassen als Mosaiksteinchen ein bereits anderweitig gewonnenes Beweisergebnis, welches allein betrachtet einen schweren Tatverdacht begründet, ins Stadium des rechtsgenüglichen Beweises zu überführen vermögen".

Vorliegend habe aber der Stellenwert der Aussage des anonymen Zeugen diese Schwelle an Erheblichkeit deutlich überschritten.

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